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Krankentaggeld: Unzumutbarer Stellenwechsel bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit

Krankentaggeld: Unzumutbarer Stellenwechsel bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit

Rechtsprechung
Krankentaggeldversicherung

Krankentaggeld: Unzumutbarer Stellenwechsel bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit

9C_177/2022

I. Ausgangslage

A. (geb. 26. Januar 1962) war als Polier angestellt und über seine Arbeitgeberin bei der Moove Sympany AG krankentaggeldversichert (Taggeldversicherung nach KVG). Ab dem 30. März 2020 war er arbeitsunfähig gemeldet. Die Moove Sympany AG leistete Krankentaggelder und holte ein psychiatrisches Gutachten ein. Dr. C. diagnostizierte eine "gegenwärtig formal leichtgradig depressive Episode". Er hielt den Versicherten in seiner angestammten Tätigkeit als Polier zu 20 % eingeschränkt, in einer leidensangepassten Tätigkeit zu 10 %. Aufgrund eines erheblichen Konflikts am Arbeitsplatz sei aber von einer Rückkehr dahin abzuraten, da sich die ängstlich-depressive Symptomatik akzentuieren könnte (Gutachten vom 12. Mai 2020). Die Moove Sympany AG stellte daraufhin die Taggelder per Ende Juli 2020 ein. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau sprach dem Versicherten dagegen Taggelder über den 31. Juli 2020 hinaus zu. Gegen diesen Entscheid erhob die Moove Sympany AG Beschwerde an das Bundesgericht.

II. Erwägungen

Nach der Rechtsprechung ist nicht nur arbeitsunfähig, wer die bisherige Tätigkeit gesundheitsbedingt nicht mehr oder nur noch beschränkt ausüben kann, sondern auch, wer diese Arbeit nur unter der Gefahr, seinen Gesundheitszustand zu verschlimmern, weiter verrichten kann. In diesem Sinn ist vorliegend von einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit auszugehen; "arbeitsplatzbezogen" ist hier wörtlich, mit Bezug auf die konkrete Arbeitsstelle, zu verstehen. Zu prüfen ist nur, ob und gegebenenfalls zu welchem Zeitpunkt es dem Versicherten zuzumuten war, den Schaden zu mindern, indem er die bisherige Tätigkeit als Polier bei einem anderen Arbeitgeber fortführt (E. 6.1).

Nachdem der Versicherte ab dem 30. März 2020 arbeitsunfähig geschrieben war, hat ihn die Moove Sympany AG mit Schreiben vom 8. Juni 2020 aufgefordert, seiner "Schadenminderungspflicht nachzukommen und den Stellenwechsel vorzunehmen oder sich bei der Arbeitslosenversicherung anzumelden". Die Regeln zum Berufswechsel sind bei einer arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit sinngemäss anzuwenden, das heisst mit Bezug auf einen anderen Arbeitsplatz (statt auf einen anderen Beruf). Hat der Taggeldversicherer die versicherte Person schriftlich zum schadenmindernden Tätigkeitswechsel aufgefordert beginnt eine Frist, während der sich die versicherte Person den veränderten Verhältnissen anpassen, das heisst eine geeignete Stelle suchen kann. Diese Anpassungsfrist ist ermessensweise festzusetzen, in der Regel auf drei bis fünf Monate. Erst anschliessend ist ein entsprechendes Einkommen anzurechnen. Ein blosser Stellenwechsel wird wohl regelmässig weniger Zeit beanspruchen als ein Berufswechsel. Dennoch wäre eine Frist von knapp zwei Monaten auch hier zu kurz gewesen. Jedenfalls durfte die Moove Sympany AG die Taggeldleistung nicht schon am 31. Juli 2020 einstellen, nachdem sie die Schadenminderung im Juni 2020 angemahnt hatte (E. 6.3).

Die schadenmindernde Vorkehr muss realisierbar sein. Diese Frage beurteilt sich grundsätzlich nach den Verhältnissen bei Ablauf der allfälligen Anpassungsfrist; eine solche anzusetzen erübrigt sich freilich, wenn vorauszusehen ist, dass das bestehende Leistungsvermögen zum massgebenden Zeitpunkt nicht verwertbar sein wird.

Der Versicherte war im Herbst 2020 fast 59 Jahre alt. In der Baubranche ist ein Altersrücktritt mit 60 Jahren unter bestimmten Voraussetzungen gewährleistet. Die Vorinstanz geht in ihren Erwägungen von einer Anfang 2022 bevorstehenden Frühpensionierung aus. Nach Ablauf einer hypothetischen angemessenen Anpassungsfrist im Herbst 2020 wäre bis zur vorzeitigen Pensionierung eine Beschäftigungsdauer von weniger als anderthalb Jahren verblieben. Die Frage, ob die angestammte Arbeitsfähigkeit des Beschwerdegegners unter diesen Umständen noch verwertbar war, ist anhand der tatsächlichen arbeitsmarktlichen Verhältnisse zu beurteilen und nicht nach dem Massstab eines fiktiven ausgeglichenen Arbeitsmarkts im Sinn von Art. 7 Abs. 1 ATSG. Die Vorinstanz verletzt kein Bundesrecht, wenn sie annimmt, der Versicherte habe altersbedingt und mit Blick auf die bevorstehende Frühpensionierung keine realistische Chance mehr gehabt, eine Stelle als Polier zu finden. Die Moove Sympany AG wendet schliesslich ein, die schwierige Vermittelbarkeit eines Versicherten begründe keinen Anspruch auf das versicherte Krankentaggeld; sie sei bei der Ermittlung des zumutbaren Verdienstes zu berücksichtigen. Diese Rechtsprechung ist in der vorliegenden Konstellation nicht einschlägig: Eine (schwierige) Vermittelbarkeit setzt voraus, dass der Berufs- resp. Stellenwechsel grundsätzlich realisierbar ist. Davon war nach dem Gesagten aber nicht mehr auszugehen (E. 6.4).

Mithin hat die Vorinstanz zu Recht geschlossen, dass der Versicherte seine im Fall eines Stellenwechsels weitgehend intakte erwerbliche Leistungsfähigkeit nicht mehr verwerten konnte. In dieser Situation ist die auf dem Risiko einer gesundheitlichen Verschlechterung beruhende arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit weiterhin relevant. Die anhaltende Arbeitsunfähigkeit bleibt im Rahmen der gesetzlichen und reglementarischen Anspruchsvorgaben leistungsbegründend, dies über den Zeitpunkt hinaus, zu dem eine (bei fehlender Verwertbarkeit letztlich gegenstandslose) Anpassungsfrist geendet hätte (E. 6.5).