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Anzeigepflichtverletzung: Besonderheiten bei schleichend verlaufenden Krankheiten

Anzeigepflichtverletzung: Besonderheiten bei schleichend verlaufenden Krankheiten

Kommentierung
Lebensversicherung

Anzeigepflichtverletzung: Besonderheiten bei schleichend verlaufenden Krankheiten

BV.2019.00082

I. Einführung

Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hatte kürzlich die Frage zu beurteilen, welche Angaben bei Abschluss eines Versicherungsvertrages gegenüber der Versicherung gemacht werden müssen, um sich später nicht dem Vorwurf einer Anzeigepflichtverletzung auszusetzen. Die Besonderheit an diesem Fall lag darin, dass der Anzeigepflichtige – ein junger Mann kurz nach Abschluss seiner Erstausbildung – an einer schleichend verlaufenden psychischen Störung litt, von deren Existenz er im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses keine Kenntnis hatte.

Nach Eintritt einer Erwerbsunfähigkeit infolge einer bipolaren affektiven Störung lehnte die Vorsorgeversicherung der Säule 3a das Leistungsgesuch des Versicherten unter Hinweis auf eine Anzeigepflichtverletzung ab und trat vom Versicherungsvertrag zurück. Dies gestützt auf die Angaben des früher behandelnden Psychiaters, wonach das psychische Leiden bereits seit dem 18. Lebensjahr und somit vor Abschluss des Versicherungsvertrages bestanden habe. Der Versicherte hatte im Jahr 1994 beim Abschluss der gebundenen Vorsorgeversicherung (Säule 3a) das Bestehen von Gesundheitsstörungen, Unfallfolgen, Anomalien oder Gebrechen verneint. Rund sechs Jahre nach Vertragsabschluss begab er sich erstmals in psychiatrische Behandlung. Die behandelnden Fachärzte diagnostizierten dann erst 2011 eine bipolare affektive Störung. Dass die Diagnose erst nach Vertragsabschluss gestellt wurde, war nach Ansicht der Versicherung nicht massgeblich.

II. Umfang der Anzeigeplicht bei Vorerkrankungen

Beim Abschluss eines Versicherungsvertrages sind der Versicherung anhand eines Fragebogens alle für die Beurteilung der zu versichernden Gefahr erheblichen Tatsachen zu deklarieren (Art. 4 Abs. 1 VVG). Werden erhebliche Gefahrstatsachen unrichtig mitgeteilt oder verschwiegen, ist die Versicherung berechtigt, den Vertrag zu kündigen (Art. 6 Abs. 1 VVG). Dies jedoch nur soweit und so wie die verschwiegene Gefahrstatsache dem Anzeigepflichtigen im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bekannt ist oder hätte bekannt sein müssen. Mit Blick auf die Frage nach Vorerkrankungen fallen unter die Anzeigepflicht nicht nur gesundheitliche Störungen, von deren Bestand oder Nichtbestand der Anzeigepflichtige im Zeitpunkt der Beantwortung der Gesundheitsdeklaration sichere Kenntnis hatte, sondern auch diejenigen, denen der Anzeigepflichtige bei ernsthaftem Nachdenken mit der ihm zumutbaren Sorgfalt Krankheitswert beimessen muss 1, was insbesondere bei schleichenden Krankheitsverläufen oft schwierig einzuschätzen ist.

III. Schleichend verlaufende Krankheiten im Besonderen

Bei Krankheiten wie Multipler Sklerose, Chronic Fatigue Syndrom, Rheuma, Arthrose oder vielen psychischen Störungen beginnen die Einschränkungen in der Regel schleichend und sind für die Betroffenen im Anfangsstadium schwer zu erkennen. Im weiteren zeitlichen Verlauf verstärken sich die Symptome und werden sichtbarer. Eine klare Grenze zwischen dem Vorliegen einzelner, geringfügiger Beeinträchtigungen und dem Bestehen von eindeutigen Symptomen einer Gesundheitsstörung mit Krankheitswert besteht dabei nicht. Häufig kann erst in einer rückblickenden Gesamtbetrachtung festgestellt werden, wann die Krankheit begonnen hat.

Nach der Praxis des Bundesgerichts vermögen das Verschweigen von vereinzelt aufgetretenen Unpässlichkeiten und Verstimmungen, die der Anzeigepflichtige in gutem Treuen als belanglose, vorübergehende Beeinträchtigungen des körperlichen Wohlbefindens betrachten darf und bei sorgfältiger Betrachtung nicht als Erscheinungsformen eines ernsthafteren Leidens beurteilt werden müssen, keine Verletzung der Anzeigepflicht zu begründen 2. Anders verhält es sich wie erwähnt bei Gesundheitsstörungen, denen bei ernsthaftem und sorgfältigem Nachdenken Krankheitswert beizumessen ist.

Im kommentierten Entscheid weist das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zu Recht darauf hin, dass diese Betrachtungsweise selbst dann gelten muss, wenn sich die nicht angezeigte, vermeintlich geringfügige Gesundheitsstörung im weiteren zeitlichen Verlauf als ernsthaftes Leiden manifestiert und die anfänglichen Symptome in Rückschau gut als Anzeichen dieser Krankheit eingeordnet werden können (und dadurch vielleicht sogar festgestellt werden kann, dass die Erkrankung rückblickend sicher vor Vertragsabschluss eingetreten ist). Massgeblich ist einzig was der konkrete Anzeigepflichtige bei ernsthaftem und sorgfältigem Nachdenken über die Gesundheitsfragen im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses hätte erkennen müssen, was nochmals betont wird.

Die Perspektive ex post bzw. die bessere Erkenntnis danach spielt dagegen keine Rolle. So bleibt irrelevant, zu welchem Zeitpunkt bei einer rückwirkenden Betrachtung eine Erkrankung eingetreten ist. Dies gilt insbesondere, wenn keine echtzeitlichen ärztlichen Berichte vorhanden sind, weil sich der Versicherte erst nach dem Vertragsabschluss in fachärztliche Behandlung begab. Wie der konkrete Fall mit einem Gerichtsverfahren zeigt wird dieser Optik in der Praxis nicht immer ausreichend Rechnung getragen.

  • 1. Urteil des Bundesgerichts 4A_25/2017 vom 29. März 2017 E. 2; zum Ganzen Clemens von Zedtwitz/Ricardo Maisano, in: Pascal Grolimund/Leander D. Loacker/Anton K. Schnyder, Basler Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz (VVG), 2. Auflage, Basel 2023, Art. 4 N 36 ff.
  • 2. Urteil des Bundesgerichts 9C_203/2020 vom 22. März 2021 E.2.2; 9C_199/2008 vom 19. November 2008 E. 3.1.4 mit Hinweisen
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