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Übergangsfrist bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit

Übergangsfrist bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit

Kommentierung
Krankentaggeldversicherung

Übergangsfrist bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit

9C_177/2022

Das Bundesgericht hat bereits vor vielen Jahren entschieden, dass Art. 61 aVVG (neu Art. 38a) – die privatversicherungsrechtliche Norm zur Schadenminderungspflicht – Ausdruck desselben Prinzips sei, aus dem in der Krankentaggeldversicherung nach KVG die Pflicht zum schadenmindernden Berufswechsel nach vorgängiger Aufforderung und Übergangsfrist entspringe (BGE 133 III 527 E. 3.2.1 m.w.H.). Kurz darauf hat es festgehalten, dass das diesbezügliche Prozedere im Sozialversicherungsrecht nach Art. 21 Abs. 4 ATSG eine Konkretisierung der Regeln zu Treu und Glauben darstelle. Nach Art. 2 Abs. 2 ZGB seien alle Rechtsteilnehmerinnen zum Handeln nach Treu und Glauben verpflichtet. Folglich sei auch von einem Privatversicherungsunternehmen als Ausdruck des Grundsatzes von Treu und Glauben zu erwarten, dass es die Versicherte über die verlangten Massnahmen informiert und die Leistungen während der Frist weiterzahlt, die zur Wiederaufnahme der Berufstätigkeit notwendig ist (Urteil des Bundesgerichts 4A_111/2010 vom 12. Juli 2010 E. 3.1 f.; konkret ging es dabei um das Finden einer neuen Stelle in der bisherigen Tätigkeit, nachdem das Versicherungsunternehmen Taggelder ausgerichtet hatte und im Verlaufe des Falles zum Schluss kam, es bestehe keine Arbeitsunfähigkeit mehr). In einem weiteren Entscheid hat das Bundesgericht nochmals bestätigt, dass die Vorgaben von Art. 21 Abs. 4 ATSG als Konkretisierung des Grundsatzes von Treu und Glauben auch für Privatversicherungsunternehmen anwendbar seien. Dies gelte allgemein für schadenmindernde Massnahmen, konkret auch bei einer verlangten medizinischen Behandlung (Urteil des Bundesgerichts 4A_79/2012 vom 27. August 2012 E. 5).

Diese faktische Übernahme von Art. 21 Abs. 4 ATSG und der dazugehörigen Praxis aus dem Sozial- in das Privatversicherungsrecht ist seither ständige Rechtsprechung. Dadurch hat sich der Wirkungsbereich dieser Regelung ungemein erweitert, nachdem die sozialversicherungsrechtliche Krankentaggeldversicherung nach KVG weitgehend von ihrer privatversicherungsrechtlichen Variante nach VVG verdrängt worden ist. Im Allgemeinen bietet die Anwendung dieser Praxis in Fällen eines gesundheitlich notwendigen Berufswechsels wenig Schwierigkeiten: Obwohl der Autor in seinem Berufsalltag auch immer wieder sieht, wie die genannten Vorgaben nicht oder nur unzureichend eingehalten werden genügt regelmässig immerhin schon ein kurzer Hinweis auf die Rechtsprechung, um doch noch ein korrektes Prozedere zu bewirken.

Weniger reibungslos verlaufen dagegen bisweilen Fälle, in denen «nur» eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit besteht oder die Arbeitsunfähigkeit endet, nachdem die bisherige Stelle verloren gegangen ist. Dann steht folglich wie im hier kommentierten Entscheid nicht ein Berufswechsel, sondern «nur» das Finden einer neuen Stelle im bisherigen Beruf zur Diskussion. Obwohl die entsprechende Praxis für das VVG genau in einem solchen Fall gründet taucht immer wieder die Auffassung auf, dass in dieser Konstellation weder eine hinreichende Aufforderung noch eine Übergangsfrist zur tatsächlichen Wiederaufnahme der Berufstätigkeit notwendig sind. Folglich erfolgen die Leistungseinstellungen teilweise sehr kurzfristig innert weniger Tage.

Das Bundesgericht hatte in einem jüngeren Entscheid die Gelegenheit, die Tragweite der Rechtsprechung nochmals in Erinnerung zu rufen. So diene die Übergangsfrist nicht nur einer Umschulung, sondern vielmehr generell der Anpassung und Stellensuche (Urteil des Bundesgerichts 4A_73/2019 vom 29. Juli 2019 E. 3.3.3 m.H. auf das Urteil des Bundesgerichts 4A_111/2010 vom 12. Juli 2010 E. 3.2). Der aktuell besprochene Entscheid bestätigt dies nochmals und verwirft explizit die Annahme, wonach bei einem Stellenwechsel keine Anpassungsfrist notwendig sei (Urteil des Bundesgerichts 9C_177/2022 vom 18. August 2022 E. 4.2 und 6.3).

Dieses Urteil gilt nach dem Ausgeführten auch für die Krankentaggeldversicherung nach VVG. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die unmissverständliche Klarstellung der Praxis und der geschlagene Bogen zum Beginn derselben (was an sich, bei Lektüre der ursprünglichen Entscheide, eigentlich niemanden überraschen sollte). Vielmehr ist der Entscheid auch in der Anwendung der Praxis auf den konkreten Fall eindrücklich. So hält das Bundesgericht explizit fest, dass die schadenmindernde Vorkehr, konkret der Stellenwechsel, realisierbar sein müsse (E. 6.4). Nach Abwägung aller Umstände des Falles schliesst sich das Gericht dann der Auffassung der Vorinstanz an: Das Auffinden einer neuen Stelle im bisherigen Beruf sei vor allem altersbedingt und mit Blick auf eine baldige Pensionierung realistischerweise nicht möglich. Daher sei die weitgehend intakte erwerbliche Leistungsfähigkeit des Versicherten nicht verwertbar und bleibe die arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit bis Ausschöpfung der Taggelder leistungsbegründend (E. 6.4 f.). So wird schliesslich auch ein Bogen zum Urteil des Bundesgerichts 4A_73/2019 vom 29. Juli 2019 E. 3.3.4 geschlagen: Dort erinnerte das Bundesgericht daran, dass die Krankentaggeld-Leistungspflicht während der Übergangsfrist allfälligen Ansprüchen gegenüber der Arbeitslosenversicherung vorgehe. Das gilt bei fehlender Verwertbarkeit der Restleistungsfähigkeit auch über die Dauer der (hypothetischen) Übergangsfrist hinaus (Urteil des Bundesgerichts 9C_177/2022 vom 18. August 2022 E. 6.4 f.).

Insgesamt erinnert diese jüngste Klarstellung, dass die Praxis zu Art. 21 Abs. 4 ATSG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 ZGB bei möglichen Schadenminderungsmassnahmen im VVG umfassend zur Anwendung gelangt. Dies gilt gerade auch bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit oder Genesung nach Verlust der Stelle und der Auflage, eine neue Stelle im bisherigen Beruf zu suchen. Namentlich die Übergangsfrist ist wohl nur dann entbehrlich, wenn die Arbeitsunfähigkeit endet und der bisherige Arbeitsplatz noch «bereit steht» (vgl. dazu bspw. das Urteil des Justizhofes des Kantons Genf A/3788/2005 vom 7. Dezember 2006 E. 7). Dann könnte die Arbeit tatsächlich von einem Tag auf den anderen wieder aufgenommen werden. In der Praxis ist das allerdings selten der Fall – in der Regel folgt auf die Arbeitsunfähigkeit vielmehr die Kündigung.

iusNet HVR 31.1.2023