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Keine Bindung der ärztlichen Aufklärungspflicht an eine bestimmte Form, Schriftlichkeit kann genügen

Keine Bindung der ärztlichen Aufklärungspflicht an eine bestimmte Form, Schriftlichkeit kann genügen

Rechtsprechung
Arzthaftpflicht

Keine Bindung der ärztlichen Aufklärungspflicht an eine bestimmte Form, Schriftlichkeit kann genügen

4A_315/2022 v. 13.12.2022

I. Ausgangslage (zusammengefasst)

Der Kläger und Beschwerdegegner unterzog sich im Januar 2013 einer durch den Beklagten und Beschwerdeführer, seinerseits Facharzt HNO, durchgeführten Operation der Nasennebenhöhlen zur Entfernung von Polypen in der Nase. Im Vorfeld der Operation wurde dem Kläger ein Merkblatt ausgehändigt, welches Hinweise auf verschiedene mögliche Nebenwirkungen und Komplikationen enthielt, darunter solche nach Verletzungen der Schädelbasis. Diese wurden wie folgt beschrieben:

"Austritt von Hirnwasser mit der Gefahr einer nachfolgenden Hirnhautentzündung oder eines Hirnabszesses; eine sofortige Operation wird dann erforderlich."

Bei der Operation kam es - wie sich nachträglich herausstellte - zu einer Verletzung der vorderen Schädelbasis und der Hirnhaut mit Austritt von Flüssigkeit und Eintritt von Luft in den Hirnraum, welche das Hirn unter Druck setzte (Spannungs-Pneumencephalon). Das Risiko für eine derartige Verletzung der Hirnhaut mit Flüssigkeitsaustritt und die nachfolgende Entwicklung eines Pneumencephalons ist bekannt, aber äusserst gering (<1%).

Mittels Teilklage forderte der Kläger Schadenersatzansprüche aus dem ärztlichen Behandlungsvertrag wegen Kopf- und Rückenschmerzen als Operationsfolge. Vorderhand wurde das Verfahren auf die Haftungsfrage beschränkt. Das zuständige regionale Gericht bejahte eine Haftung aufgrund einer Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht, was das Obergericht bestätigte.

Das Bundesgericht heisst die hiergegen gerichtete Beschwerde gut und weist die Klage ab.

II. Erwägungen des Bundesgerichts

Gemäss vorinstanzlichem Beweisergebnis, welches nach bundesgerichtlicher Auffassung willkürfrei zustande kam, war dem Kläger und Beschwerdegegner vor der Operation ein Merkblatt ausgehändigt worden, in dem auf die mögliche Komplikation eines Hirnwasseraustritts mit der Gefahr einer nachfolgenden Hirnhautentzündung hingewiesen wurde. Nicht erstellt war, dass dazu eine mündliche Erläuterung erfolgte und dass der Beschwerdegegner das Merkblatt gelesen und verstanden hatte. Nach Auffassung der Vorinstanz müsse ein Merkblatt dem Patienten grundsätzlich mündlich erläutert werden, und der Arzt müsse sich vergewissern, dass der Patient die Erläuterungen verstanden habe. Dem widersprach das Bundesgericht. Es gehöre zu den vertraglichen Pflichten eines Arztes, den Patienten klar, verständlich und so vollständig wie möglich über die Diagnose, die Behandlungsmethode und -aussichten, Alternativen zur vorgeschlagenen Behandlung, die Risiken einer Operation, die Heilungschancen und finanzielle Fragen aufzuklären. Es obliege grundsätzlich dem Arzt zu beweisen, dass er den Patienten in diesem Sinne ausreichend informiert und dieser in den Eingriff eingewilligt habe (E. 4). Die ärztliche Aufklärung sei grundsätzlich nicht an eine bestimmte Form gebunden. Es sei vielmehr anhand der Umstände im Einzelfall zu entscheiden, ob der Patient im Ergebnis klar und verständlich über die Diagnose, die Behandlungsmethode und die Risiken aufgeklärt worden sei (E. 7.1). In casu würdigte es insbesondere die Umstände, dass dem Kläger ein Merkblatt abgegeben worden war, mit der Aufforderung, dieses zu lesen, in diesem Merkblatt in verständlichen Worten auf eben jenes spezifische Risiko, wie es sich verwirklicht hatte, hingewiesen worden war, es sich dabei um eine ausgesprochen seltene Komplikation gehandelt hatte und diese nicht besonders gravierend war, da sie korrigiert werden konnte. Der Kläger hatte ausdrücklich die Möglichkeit, das Merkblatt zu Hause zu studieren, dort Fragen vorzubereiten und diese Fragen nach entsprechender Bedenkfrist bei einer anschliessenden Konsultation zu stellen. Darauf hatte dieser aber verzichtet (E. 7.2).

iusNet HVR 31.1.2023